September 2017
Im Sommer 2017 blieben die Finanzmärkte von größeren externen Schocks verschont, die ihre Widerstandsfähigkeit auf die Probe gestellt hätten. Es gab weder eine Finanzkrise noch eine militärische Intervention, abgesehen von einigen Provokationen durch Nordkorea. Das Konjunkturumfeld war insgesamt positiv, und am Ende stand das berühmte Treffen der Zentralbanker im August in Jackson Hole, wo man sich vor allem darauf verständigte, zu geldpolitischen Fragen zu schweigen. Insgesamt gab es also keine besonderen Vorkommnisse.
Im Juli und August verlor der EuroStoxx 1 Prozent, der S&P 500 Index legte um 1,8 Prozent zu und der Aktienindex MSCI World gewann dank der soliden Entwicklung der Schwellenländer 2,3 Prozent. Hinter dieser undramatischen Entwicklung verbargen sich jedoch weitere Verschiebungen der globalen wirtschaftlichen Gleichgewichte (siehe unsere Note vom Juli „Rationale Überschwänglichkeit?“). Dies lässt sich vor allem an zwei Entwicklungen verdeutlichen: Einerseits steht hier der seit Anfang dieses Jahres zu beobachtende Rückgang des US-Dollar. Dieser hat sich vor allem gegenüber dem Euro beschleunigt und konnte in diesem Sommer um rund 5 Prozent zulegen. Auf der anderen Seite steht der Rückgang der risikofreien Zinssätze. Beide Einzelentwicklungen gilt es zu verstehen, denn in ihnen drücken sich die Befürchtungen der Anleger aus. Sie fungieren auch als „Blitzableiter“: In ihrem Windschatten konnten die Aktien- und Kreditmärkte von guten Unternehmensergebnissen profitieren und sich mit ihren Bewertungsniveaus zufrieden geben.
Die Europäische Zentralbank kann die Fortsetzung ihrer Notfall-Geldpolitik nicht mehr lange rechtfertigen
Seit dem Jahresanfang besteht ein scharfer Kontrast zwischen dem globalen Wirtschaftsaufschwung – vor allem in Europa – und der Zinsentwicklung.
In den ersten Monaten des Jahres waren die politische Unsicherheit in Verbindung mit den Präsidentschaftswahlen in Frankreich, die wahrscheinlich damit zusammenhängende, zögerliche Konjunkturerholung in Europa und die monatlichen Anleihekäufe der EZB ausschlaggebend für den außergewöhnlichen Aufschlag auf deutsche Bundesanleihen. Das Niveau ihrer jährlichen Renditen zwischen 0,2 Prozent und 0,5 Prozent war selbst vor dem Hintergrund eines Inflationsniveaus von unter 2 Prozent bereits deutlich niedrig. Dennoch konnte diese Anomalie bei unveränderten Bedingungen fortbestehen. In diesem Sommer aber wandelte sich das Umfeld.
Was die Politik anbelangt, hat Angela Merkel ihren Vorsprung in den Umfragen zur Bundestagswahl im September ausgebaut. Dies stützt die Hoffnung auf eine neue europäische Dynamik und auf eine gestärkte deutsch-französische Achse. Von diesem politischen Impuls könnte u.a. Italien profitieren, auch wenn Ex-Premier Berlusconi sich in den Medien wieder zu Wort meldet. Das Land erholt sich nach und nach vom gescheiterten Referendum über die von Matteo Renzi geplanten Reformen im Dezember 2016: So stieg der Geschäftsklimaindex der italienischen Wirtschaft im August erneut an und erreichte seinen höchsten Stand seit 2008.
In der Eurozone schlägt sich nun in allen Ländern die Verbesserung der vorlaufenden Konjunkturindikatoren vom Jahresanfang nieder: Nach einem 18-monatigen Rückgang lag der Einzelhandelsindex im August rund 2 Prozent über seinem Stand vom Januar. Die gleiche Tendenz gilt für die Industrieproduktion.
Obwohl die europäische Wirtschaftsleistung absolut gesehen weiterhin eher moderat ist und die Inflationsrate das offizielle Ziel nach wie vor verfehlt, kann die Europäische Zentralbank ihr Festhalten an einer Notfall-Geldpolitik nicht mehr lange rechtfertigen. Aus unserer Sicht ist es unausweichlich, dass die EZB auf kurze Sicht ankündigt, das Anleihenkaufprogramms zu reduzieren. Nicht zuletzt deswegen, weil der Pool an Wertpapieren, die für Ankäufe in Frage kommen, rapide abnimmt. Dies gilt insbesondere für deutsche Bundesanleihen. Unseren Schätzungen zufolge müsste die „normale“ Rendite zehnjähriger deutscher Anleihen zurzeit bei mindestens 1 Prozent liegen; dieser Umstand wird vom Markt im Moment völlig übergangen. Mario Draghi könnte also in den nächsten Monaten mit dieser Realität konfrontiert werden. Dies ist eines der größten Marktrisiken derzeit. Es muss auch deshalb sehr aktiv gesteuert werden, weil Anleger die Auswirkungen auf andere Anlageklassen absichern sollten.
Die Entwicklung der Währungen der USA, Europas und Chinas markiert den Anfang eines tiefgreifenden Wandels
Der Euro profitiert davon, dass er mehreren tiefgreifenden wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen ausgesetzt ist. Zum einen scheint der Konjunkturzyklus in den USA zu erlahmen, während die Konjunkturaussichten in Europa endlich anziehen. Der vorlaufende Einkaufsmanagerindex für das verarbeitende Gewerbe in den USA geht seit Jahresanfang zurück. Die Konsumausgaben sind zwar noch solide, aber dafür ging die Sparquote der Verbraucher deutlich zurück (von 5,4 Prozent vor einem Jahr auf 3,6 Prozent). Die Inanspruchnahme von Verbraucherkrediten hat einen historischen Höchststand erreicht, was Banken inzwischen veranlasst, ihre Finanzierungskonditionen zu verschärfen.
Die Entwicklung des Euro-Dollar-Wechselkurses im Jahr 2017 entspricht folglich einem logischen Spiegelbild der Entwicklung im Jahr 2014. Damals waren die Konjunkturaussichten in den USA bei weitem besser als in der Eurozone. Außerdem ist inzwischen offenkundig, dass die Hoffnungen des Marktes auf eine groß angelegte Steuerreform geplatzt sind, nachdem Donald Trumps populistische Hirngespinste mit der Wirklichkeit konfrontiert wurden. Allerhöchstens wird der von den Republikanern beherrschte Kongress im zweiten Halbjahr einen Haushalt für 2018 zustande bringen. Die hierin wohl enthaltenen Steuersenkungen sind zwar allseits willkommen, aber angesichts der Konjunkturverlangsamung unzureichend.
Ferner ist Donald Trump im Begriff, den geopolitischen Kredit, den die USA gegenüber anderen wichtigen Regionen besitzen, dauerhaft zu verspielen. Indem sie sich aus der Transpazifischen Partnerschaft (TPP) zurückziehen, Zweifel an der Beibehaltung des nuklearen Schutzschirms der USA zugunsten der europäischen NATO-Mitglieder aufkommen lassen und bei strategischen Entscheidungen improvisieren und sich widersprechen, bringen die Vereinigten Staaten zurzeit ihre globale Führungsposition in Gefahr. Damit bietet sich für Europa und China die Gelegenheit, eine größere geopolitische Position einzunehmen. Diese neue Rollenverteilung spiegelt sich zum Teil bereits in der Entwicklung der Währungen der USA, Europas und Chinas wider.
Darüber hinaus profitiert seit Jahresanfang auch der Goldpreis, also die ultimative Reservewährung. Es gibt mittlerweile sehr gute Gründe für Anleger, zu prüfen, wie groß der Anteil ihrer Portfolios sein soll, den sie strukturell dem US-Dollar zuweisen.
Die Preisverzerrungen bei Staatsanleihen und der Paradigmenwechsel beim Euro-Dollar-Wechselkurs verursachen erhebliche Marktstörungen. Die Normalisierung der Anleiherenditen, die Mario Draghi nicht mehr lange hinausschieben kann, wird Anleger, die diese nächste Phase nicht antizipiert haben, in Schwierigkeiten bringen. Darüber hinaus wird sie sich automatisch auf die Risikoprämie der Aktienmärkte auswirken. Ein Anstieg des Euro auf ein Niveau deutlich über 1,20 USD, das kaum seinem theoretischen Wert bei Kaufkraftparität entspricht, ist denkbar, und würde die Unternehmensergebnisse in der Eurozone beeinträchtigen. Diese müssten jedes Mal, wenn der Euro um 10 Prozent steigt, um durchschnittlich 5 bis 8 Prozent nach unten korrigiert werden. Eine entscheidendere Frage ist jedoch, ob diese beiden Entwicklungen aufeinander stoßen: ein starker Euro, der zu restriktiveren finanziellen Bedingungen in der Eurozone führt, und das unausweichliche Ende der außerordentlich akkommodierenden Geldpolitik der EZB. Auch wenn man einen Blitzableiter hat, sollte man das Barometer im Auge behalten.
Quelle: Bloomberg, 31.08.2017