Edouard Carmignac greift zur Feder und kommentiert aktuelle wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Herausforderungen.
Sehr geehrte Damen und Herren,
in meinem letzten Schreiben brachte ich die Befürchtung zum Ausdruck, dass die Inflation auch über das Ende der Corona-Pandemie hinaus anhält. Ich verwies allerdings auch auf den strukturellen (demografischen und technologischen) Deflationsdruck, der den Preisanstieg dämpft.
Hat sich die Lage mit Omikron verändert? Durch diese besonders ansteckende Variante verlängern sich zweifellos die Engpässe in den Produktions- und Logistikketten. Die Aussicht auf einen Rückgang der Preise für Industriegüter durch den Abbau der Sicherheitsbestände ist weiter in die Ferne gerückt. Eine Verschlechterung der fragilen Gesundheitslage in China würde diese Entwicklung noch verstärken.
Diese Auswirkungen – die zwar länger andauern als erwartet, aber dennoch vorübergehender Natur sind – einmal außer Acht gelassen, sollten wir uns meines Erachtens mit der Situation auf dem Arbeitsmarkt nach der Corona-Krise befassen. Der Wandel der Arbeitsbedingungen sowie in einigen Regionen das plötzliche Herunterfahren der Wirtschaft über längere Zeiträume scheinen Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt zu bewirken, deren Tragweite wir noch nicht vollends erfassen. Anders als in früheren Krisen ist die Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze im Zuge des derzeitigen Aufschwungs enttäuschend. Und das, obwohl die neue Virusvariante kaum gefährlich ist und die Unterstützungsmaßnahmen für Arbeitslose reduziert wurden. So ist der Rückgang der Zahl der Arbeitssuchenden unter anderem zurückzuführen auf einen deutlichen Anstieg der Frühverrentungen, eine sinkende Zahl von Doppelverdienern bei Paaren mit Kindern, Personen, die aufgrund der Pandemie an Depressionen leiden, sowie Ausbildungsabbrecher, die nicht mehr ins traditionelle Arbeitsleben im Unternehmen zurückkehren wollen.
Die schrumpfende Erwerbsbevölkerung führt unweigerlich zu einem Aufwärtsdruck auf die Löhne; insbesondere auf die Löhne für gering qualifizierte Arbeit. Von August bis September haben 24 Millionen US-Amerikaner ihre Stelle gekündigt, um eine besser bezahlte oder befriedigendere Arbeit zu finden. Gleichzeitig wird der Anstieg der Energiepreise, wie wir bereits erwähnt hatten, anhalten. Sowohl die Unterinvestitionen in fossile Energieträger in den vergangenen Jahren als auch die Priorisierung grüner Energieträger sprechen für eine Verteuerung der Energiepreise.
Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum und ist sogar wünschenswert, dass die Zentralbanken das Risiko eines unkontrollierten Inflationsanstiegs verhindern wollen. Als Anleger tragen wir somit das Risiko, dass im Zuge der übermäßigen Begrenzung der liquiden Mittel geldpolitische Fehler begangen werden. Obgleich wir dieses Risikos selbstverständlich nicht kontrollieren können, sollte es nach unserer Auffassung auch nicht überbewertet werden. Die Zentralbanken werden sich nach Kräften bemühen, die durch rückläufige Haushaltsausgaben bereits geschwächte Konjunkturerholung nicht abzuwürgen. Die Aktienmärkte dürften im Übrigen weiter durch Negativzinsen beflügelt werden. Dieses Szenario eines moderaten Zinsanstiegs in Verbindung mit einem hartnäckigen Inflationsanstieg dürfte die Growth-Aktien mit hoher Transparenz begünstigen, die den Kern unserer Portfolios bilden. Diese Titel können den Kostenanstieg verkraften und ihre Margen verteidigen; gleichzeitig sind sie weniger anfällig für den unvermeidlichen Abschwung, mit dem wir in diesem Jahr rechnen.
Zu Beginn dieses erneut ungewöhnlichen Jahres wünsche ich Ihnen von Herzen Glück und Wohlstand. Mit freundlichen Grüßen.